Wer ist unter euch, dem sein Sohn oder Ochse in den Brunnen fällt und der ihn nicht alsbald herauszieht, auch am Sabbat?
Luk 14,5
Ach, Herr, wenn es immer so einfach wäre.
Natürlich ziehe ich den Sohn – er ist ja der Erbe – oder den Ochsen – er ist ja ein Wirtschaftsfaktor – aus dem Brunnen, auch wenn es am Sabbat ist. Das ist doch keine Frage. Ist es schon etwas anderes, wenn die Tochter oder der Hund am Sabbat in den Brunnen fällt? Natürlich werde ich auch die beiden am Sabbat aus dem Brunnen retten, und dabei wüßte ich mich mit dir im Einklang.
Aber was, Herr, fällt nicht alles in den Brunnen, was besser drin bliebe? Und wie kommt es, daß der Brunnen erst dann eine Abdeckung erhält, wenn as Kind in den Brunnen gefallen ist? Warum fällt so vieles in den Brunnen und gerät darüber in Vergessenheit?
Lockt die Faszination des Brunnens, der die Stimme so wunderbar verändert und auf dessen Grund sich mein Gesicht gleichsam wellenatmend spiegelt nicht immer wieder gerade kleine Menschen unheimlich an? Und sie verlieren beim Horchen und Schauen den Boden unter den Füßen und fallen und stürzen ins Boden-lose hinab und der Spiegel zerbricht. Und oft ist da nicht mehr als der Tod herauszuziehen. So viel Leid, Herr, am Brunnen. So viel Hoffnung ertrunken. Da hängen so viele Harfen an den Weiden am Brunnen und Menschen sitzen da und weinen am Wasser – nicht nur an den Bächen Babylons – du weißt es, Herr.
Und du kommst vorbei – nicht nur am Sabbat – um zu heilen. Du kommst – nicht nur am Sabbat – um die Tränen der Weinenden einzusammeln in deinen Krug. Deinen Krug füllst du nicht aus dem Brunnen, sondern mit den Tränen der Brunnenmenschen. Keine Träne rinnt unbeachtet oder von Dir unbemerkt. Du sammelst eine jede in deinen Krug. Und einmal kommst Du an allen Brunnen und Tiefen und Abgründen vorbei, um alle Tränen abzuwischen von allen Augen. Wann, lieber Herr und Bruder, wird das sein? Wir harren Dein in dunkler Nacht und lieben dein Erscheinen – an den Brunnen und anderswo, wo wir zusammenkommen, um zu reden, zu klagen, zu erzählen.
Herr, stärke uns! Gib Kraft zur Hoffnung! Den Wassersüchtigen hast du geheilt am Tag der Ruhe, an dem der Schöpfer zu uns redet.
Es ist so schwer mit den Brunnen – Wasser des Lebens gibst du durch sie. Das dürfen wir nicht abdecken, verdecken, zumauern. Aber es fallen so viele in die Brunnen der großen Tiefe, wo der Tod und das Verderben haust. Herr, gib uns die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden. Und dann, Herr, werden wir sein wie die Träumenden. Unser Mund wird voll Lachens sein, denn wir trinken aus der Quelle des Heils und dem Brunnen "unerschöpfter Güt". Und überall werden wir erzählen: Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich.
Ach, Herr, wenn alles so einfach wäre.