Psalm 118, 6

Gehalten zum Jahreswechsel 1989/90

Liebe Gemeinde.

Ich fürchte mich nicht. Das ist für mich das ganze Evangelium. Darin ist alles zusammengefaßt. Ich fürchte mich nicht. Wenn ich in die Vergangenheit Zukunft blicke – ich fürchte mich nicht.

Das Jahr 1989 ist nun Geschichte geworden. Über dieses Jahr werden wohl zwei Aussagen im Gedächtnis bleiben. Der eine Satz ist: "Das ist ja Wahnsinn!" Wir haben diesen Ausruf nach der Öffnung der Grenzen immer wieder bei den DDR-Leuten gehört. "Das ist ja Wahnsinn, daß das alles jetzt möglich ist und wird"-. Und das andere Stichwort über dieses Jahr wird sein: "Ich fürchte mich nicht!" Es war das Jahr, in dem viele Menschen in Europa die Furcht verloren haben. Die Furcht lähmte sie nicht mehr. Die Vielen haben sich auf ihre Kraft besonnen. Die Furcht lähmte sie nicht mehr. Die Mächtigen mußten überall die Stühle der Macht räumen. Was sich die Menschen wünschten und wofür sie auf die Straße gingen, war eine angstfreie Zukunft. Endlich, endlich sollte alle Angst und aller Schrecken aufhören. Meine Sorge ist nur: was wird daraus werden? Was in die Hände der Menschen gerät, ist selten gut geblieben. Wenn Menschen die Furcht ablegen, dann kann das leicht in Wahnsinn umschlagen.

Wir müssen also bei diesem guten Wort: Ich fürchte mich nicht, genauer hinschauen. Ich glaube, die meisten von uns kennen das Märchen "Von einem, der auszog das Fürchten zu lernen". Durch das ganze Märchen zieht sich der Satz hindurch: "Wenn es mir doch nur einmal gruselte". Dahinter steckt wohl die Ahnung, daß ein Mensch ohne Furcht unmenschlich ist. Angst gehört nun einmal zu unserm Leben. Angst ist wichtig zum Überleben. Angst kann ein sehr guter Ratgeber sein. Angst kann zur Vorsicht mahnen. Es geht bei dem Wort: "Ich fürchte mich nicht", es geht nicht um die totale Abwesenheit von Angst und Furcht.

Es geht, so glaube ich, um die besiegte Angst, um die niedergerungene Angst. Angst soll nicht mehr die beherrschende Macht unseres Lebens sein. Angst soll nicht mehr unsere Gedanken und unsere Handlungen bestimmen. Das geht aber nur, wenn etwas Größeres, Wichtigeres der Angst entgegentritt. Der Beter sagt: "Der Herr ist mit mir, DARUM fürchte ich mich nicht". Hier ist die Macht und die Kraft genannt, die unsere Angst und unsere Furcht niederkämpft. Im Vertrauen, daß ER mit uns geht, daß er an unserer Seite ist, wird die Angst an die zweite Stelle gerückt. Hier ist der Größere, hier ist der Wichtigere: Der Herr ist mit mir. Darum fürchte ich mich nicht. Wenn wir ihn an unserer Seite wissen, dann nimmt die Angst eine Größe an, mit der wir umgehen können.

Damit ist die Angst aber nicht ein für allemal besiegt. Nein, sie erhebt sich immer wieder. Sie streckt ihre Fangarme immer wieder nach uns aus. Immer wieder versucht sie, uns in ihr Netz zu ziehen und zu umgarnen. "Der Herr ist mit mir" – diese Gewißheit muß ich mir immer wieder auch erkämpfen. Um diese Gewißheit muß ich immer wieder ringen. Ist der Herr denn bei mir? Kann ich mich auf ihn verlassen? Ist er denn auch wirklich treu? Ist er mit mir in den schwarzen Sümpfen der Traurigkeit, und ist er bei mir in den Wüsten der geschändeten Hoffnungen? Wo war er in meinem Leben, in diesem Jahr das nun zuende geht? Da war doch so viel Abschied und so viel Schmerz. Aber es war doch auch das andere da: Gute, neue Anfänge, Mut, den neuen Tag und die neue Woche zu beginnen, die Stunden des Glücks, und da war auch doch Freude und Lachen. Wir müssen und wollen uns schon an beides erinnern – die dunklen Täler und die grüne Aue. "Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht". Ja, im Vertrauen auf unseren Gott gehe ich meinen Weg. Auch wenn es schwierig wird, auch wenn Enttäuschungen sich einstellen – Gott ist bei mir. Wie und auf welche Weise er bei uns ist, das weiß ich auch nicht genau zu sagen: Ich weiß nur – er ist dabei! Und wenn ich auf meinem Weg ins Straucheln komme, dann legt er mir den Arm um die Schulter, um mich zu stützen. Wenn mir die Kraft ausgeht, dann stärkt er mich. Und wenn ich vor lauter Not und Elend nicht mehr weiter kann, dann trägt er mich auch. So ist der Herr bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.

Aber da ist ja nicht nur Gott alleine. Da sind ja auch noch Menschen: Was können mir Menschen tun? fragt der Beter. O ja, sie können mir sehr viel tun! Sie können mich beleidigen und mir sehr weh tun. Sie können mich ärgern und schrecken. Klein, ganz klein können sie mich machen, so daß ich nur noch ein Schatten meiner selbst bin. Sie können mich unglücklich bis zur Verzweiflung machen. Menschen können mir sehr viel tun. Und ich – bin ich nicht auch einer dieser Menschen? Was tue ich mir selber an? Bin ich nicht manchmal mein größter Feind und Gegner? Was tue ich mir alles selber an! Wenn ich in bodenloser Traurigkeit oder maßloser Selbstüberschätzung den Boden unter den Füßen verliere? Ich bin der Mensch, der mir am meisten antut!

 

Nun steht unser Beter zwischen Gott, der mit ihm ist und den Menschen, die ihm so viel antun können und fragt: "Was können mir Menschen tun? Wenn Gott mit mir ist, was können mir Menschen tun?"

 

Welch eine Zuversicht, und welch eine Hoffnung steckt darin: "Gott ist mit mir"?! Auf ihn kann ich bauen, auf ihn kann ich vertrauen. Gott ist mit mir, das ist allein wichtig. Gott ist mit mir, was können mir Menschen tun? Ich weiß mich gehalten von einer größeren, stärkeren Hand! Was auch geschieht in meinem Leben – der Herr ist mit mir. Ja, ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Kreatur kann mich scheiden von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserm Herrn. DARUM fürchte ich mich nicht. Darum kann ich meinen Weg gehen. Darum jagen mir Menschen keinen letzten Schrecken ein. Weil mich nichts, aber auch gar nichts, mich scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserm Herrn.

 

Hier ist der tiefste Grund, warum die Angst nicht mehr unser Leben beherrschen muß. Denn Angst ist nicht in der Liebe, so heißt es im 1. Joh-brief. Wenn der Herr mit uns geht, dann wird die Angst klein, so klein, daß wir mit ihr umgehen können, ja sie manchmal sogar niederkämpfen können. Und in diesem Kampf haben wir einen starken Verbündeten.

 

Die Ursituation für besiegte Angst ist für mich in der Bibel die Gestalt des Josua. Nachdem Mose gestorben war, soll er das Volk nun allein in das gelobte Land hineinführen. Am Abend vor dem entscheidenden Schritt, steht Josua am Jordan. Allein und auf sich selber gestellt. Steht dort und ist erschrocken über die Größe der Aufgabe, die vor ihm liegt. Angst und Furcht vor dem Unbekannten, das auf ihn wartet, kriecht in ihm hoch. Der Mut entsinkt ihm. Da erscheint ihm der Herr, und Josua hört das große und gute Wort: "Sei getrost und unverzagt, laß dir nicht grauen, und fürchte dich nicht – denn siehe, ich bin bei dir auf allen deinen Wegen, die du gehen wirst." Und im Vertrauen auf die Kraft dieser Zusage geht Josua mit dem ganzem Volk seinen Weg. Mehr als dieses Wort hatte er nicht, mehr als dieses Wort hatten sie alle nicht. Aber er vertraut diesem Wort – und geht. Der Herr ist mit mir, was können mir Menschen tun. Alles, was geschieht, muß ja an seinem Angesicht vorübergehen.

 

Der Dichter Otto Wiemer hat das, was Josua und viele andere erlebt haben, in ein Gedicht gekleidet. Das Gedicht hat den Titel: "Die Chance der Bärenraupe, über die Straße zu kommen." Und Wiemer erzählt: "Sie hat keine Chance. Sechs Meter Asphalt. Zwanzig Autos in der Minute. Fünf Laster, ein Schlepper, ein Pferdefuhrwerk. Die Raupe weiß nichts von Autos. Sie weiß nicht wie breit der Asphalt ist. Weiß nichts von Fußgängern, Radfahrern, Mopeds. Die Bärenraupe wie nur, daß Jenseits Grün wächst. Herrliches Grün. Vermutlich freßbar. Sie hat Lust auf Grün. Man müßte hinüber. Keine Chance. Sechs Meter Asphalt. Sie geht los. Geht los auf ihren Stummelfüßen. Zwanzig Autos in der Minute. Geht los ohne Hast, ohne Furcht, ohne Taktik. Ein Schlepper, ein Pferdefuhrwerk. Geht los und geht und geht und geht und – kommt an."

 

Ich weiß, daß wir keine Bärenraupen sind, die ahnungslos losgehen. Wir haben Ahnungen genug. Ahnungen auch, die uns quälen. Aber wir haben auch die Gewißheit, die die Bärenraupe nicht haben kann: Der Herr ist mit mir. Darum laßt uns gehen ohne Hast, ohne Furcht mit ein wenig Taktik. Laßt uns gehen einfach in der Kraft dieses Wortes: "Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht. Was können mir Menschen tun?!" Amen